In Bezug auf die kürzlich bekannt gewordenen Änderungen im neuen „Psychological interventions implementation manual“ der WHO möchten wir, die Deutsche Vereinigung für Gestalttherapie (DVG), unsere tiefen Bedenken und unsere Enttäuschung über den geplanten Ausschluss der Gestalttherapie sowie anderer psychotherapeutischer Ansätze (außer der kognitiven Verhaltenstherapie) zum Ausdruck bringen.
Bedeutung der Gestalttherapie und anderer psychotherapeutischer Modalitäten
Gestalttherapie, eine der humanistischen Psychotherapien, zielt darauf ab, Patient*innen und Klient*innen zu helfen, sich ihrer Gedanken, Gefühle und Handlungen bewusst zu werden, um ein tieferes Verständnis ihrer selbst und ihrer Beziehungen zu erlangen (Hartmann-Kottek & Strümpfel, 2012; Perls, 1973; Rahm, 2011; Staemmler, 2009; Zinker, 2005). Diese Form der Therapie hat sich in zahlreichen Studien als effektiv erwiesen, insbesondere bei der Behandlung von Depressionen, Angststörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen (Kriz, 2018).
Andere psychotherapeutische Modalitäten, wie die psychodynamische Therapie, die systemische Therapie und die existenzielle Therapie, bieten ebenfalls einzigartige und wertvolle Perspektiven auf psychische Gesundheit und Heilung. Diese Ansätze berücksichtigen die Komplexität des menschlichen Erlebens und unterstützen Patient*innen und Klient*innen dabei, tief verwurzelte emotionale Konflikte zu verstehen und zu lösen.
Vorteile und Stärken der Gestalttherapie
- Ganzheitlicher Ansatz: Gestalttherapie betrachtet den Menschen in seiner Gesamtheit –physisch, psychisch und in sozialen Bezügen. Dieser Ansatz fördert das Bewusstsein für alle sozio-kulturellen und individuellen Ebenen (Bronfenbrenner, 1979) und ermöglicht es den Patient*innen und Klient*innen, ihre Erfahrungen im Hier und Jetzt zu integrieren und zu verarbeiten.
- Therapeutische Beziehung: Ein zentraler Bestandteil der Gestalttherapie ist die Beziehung zwischen Therapeut*in und Klient*in. Diese Beziehung basiert auf Empathie, Authentizität und positiver Wertschätzung, die entscheidend für den therapeutischen Erfolg ist, wie zahlreiche empirische Studien der vergangenen Jahrzehnte zweifelsfrei belegen
(Finsrud et al., 2022; Lambert, 2013; Wampold, 2021).
- Evidenzbasierte Wirksamkeit: Obwohl die evidenzbasierte Medizin oft einseitig auf quantitativ messbare Ergebnisse fokussiert, gibt es neben diesen Studien auch zahlreiche qualitative Studien und Fallberichte, die die Effektivität der Gestalttherapie belegen.Diese Studien zeigen, dass Gestalttherapie bei einer Vielzahl von psychischen Problemen hilfreich ist, einschließlich Angststörungen, Depressionen und Traumata (Kriz, 2018).
- Individuelle Anpassung: Gestalttherapie ist flexibel und anpassungsfähig an die individuellen Bedürfnisse der Klient*innen. Sie ermöglicht es den Therapierenden, kreativ und zielgerichtet auf die spezifischen Herausforderungen und Anliegen ihrer Klient*innen einzugehen.
- Vielfältige Einsatzzwecke: Gestalttherapie, -beratung, -coaching und -supervision berücksichtigen als integrativer Ansatz, sowohl emotionale als auch kognitive Prozesse und ermöglicht damit Gemeinschaften zu stärken, soziale Konflikte zu lösen, Selbstbewusstsein zu stärken und berufliche Entwicklung voranzutreiben. Sie fördern Selbstwahrnehmung, Eigenverantwortung, emotionale Intelligenz, kreative Problemlösungen, persönliche Entwicklung und Resilienz. Daher kann das Verfahren neben psychische Störungen, im sozialen Bereich (Bernstädt et al., 2010), bei Erziehung (Schübel, 2023; Schübel et al., 2023), Beratung (Bachmann, 2020a, 2020b, 2021; Bachmann & Loermann, 2022; Lellinger & Bachmann, 2016) und Prävention (Votsmeier-Röhr & Wulf, 2017; Zinker, 2005) optimal eingesetzt werden.
Kritische Betrachtung des WHO-Manuals
Der geplante Ausschluss dieser Therapiemodalitäten im neuen „Psychological interventions implementation manual“ der WHO ist aus unserer Sicht eine verheerende Entscheidung für die globale psychische Gesundheit. Befremdlich ist eh, dass von „Psychologischer Intervention“ gesprochen wird und nicht von Psychotherapie. Psychologische Intervention und Psychotherapie sit nicht dasselbe. Ersteres reicht nicht aus, Menschen in psychischer Not ausreichend zu helfen.
Hier sind die Hauptgründe für unsere Besorgnis:
Wissenschaftliche Evidenz: Das gegenwärtige Paradigma der psychotherapeutischen Unterstützung, das stark auf manualisierte, evidenzbasierte Verfahren fokussiert ist, vernachlässigt die Komplexität und Vielfalt menschlicher Erfahrungen. Diese Einseitigkeit spiegelt sich in der Reduktion auf biomedizinische Modelle wider, die den psychischen und sozialen Aspekten menschlicher Existenz nicht gerecht werden. Die internationale Psychotherapieforschung betont die Notwendigkeit eines pluralistischen Ansatzes, der qualitative Methoden und kontextuelle Betrachtungsweisen einschließt. Zudem haben zahlreiche wissenschaftliche Studien die Wirksamkeit von humanistischen Therapieverfahren bestätigt (Kriz, 2023). Ein Ausschluss dieser Ansätze im „Psychological interventions implementation manual“ der WHO könnte den Zugang zu bewährten und effektiven Behandlungsmethoden erheblich einschränken.
Vielfalt der Therapieansätze: Psychische Gesundheit ist ein komplexes Feld, und nicht jeder Patient*in und Klient*in spricht auf die gleiche Therapieform an. Die Reduktion auf kognitive Verhaltenstherapie (CBT) ignoriert die individuelle Natur psychischer Erkrankungen und die Notwendigkeit eines breiten Spektrums therapeutischer Ansätze, um die unterschiedlichen Bedürfnisse der Patient*innen und Klient*innen zu erfüllen. Die internationale Psychotherapieforschung darauf hin, dass eine Vielfalt von Ansätzen notwendig ist, um den unterschiedlichen Bedürfnissen und Lebenswelten der Betroffenen gerecht zu werden (Norcross & Wampold, 2018).
Wohlbefinden und Gesundheit der Betroffenen: Viele Patienten haben von der Vielfalt der verfügbaren psychotherapeutischen Methoden profitiert. Der Ausschluss könnte bedeuten, dass viele Menschen nicht die für sie am besten geeignete Therapieform erhalten, was zu suboptimalen Behandlungsergebnissen führen kann. Dies unter humanitäten, wie ökonomischen Gesichtspunkten inakzeptabel.
Politikum der wissenschaftlichen Anerkennung: Die wissenschaftliche Anerkennung von Therapieformen ist auch ein Politikum (Eckert, 2019; Kriz, 2018), das nicht auf Kosten der Gesundheit der Bevölkerung ausgetragen werden darf. Der Rechtsstreit um die Anerkennung der Gestalttherapie in Deutschland zeigt, dass wissenschaftliches Fehlverhalten und politisch motivierte Entscheidungen die Vielfalt und Qualität der psychotherapeutischen Versorgung gefährden können (Meder, 2023).
Nachhaltigkeit der Therapeutische Ausbildung und Praxis: Die Ausbildung von Psychotherapeut*innen umfasst eine breite Palette von Ansätzen, um sicherzustellen, dass sie flexibel und kompetent auf die individuellen Bedürfnisse ihrer Patient*innen und Klient*innen in sich stark veränderten Umwelten eingehen können. Ein Fokus ausschließlich auf CBT könnte die Ausbildung und Praxis von Therapierenden weltweit nachhaltig negativ beeinflussen.
Unsere Forderungen
Wir fordern die WHO auf, den geplanten Ausschluss von Gestalttherapie und anderen psychotherapeutischen Modalitäten im neuen Manual zu überdenken. Es ist entscheidend, dass die WHO die Vielfalt und den Reichtum der psychotherapeutischen Praxis anerkennt und beibehält, um sicherzustellen, dass alle Patient*innen und Klient*innen Zugang zu der für sie besten Therapieform haben.
Psychische Gesundheit ist ein grundlegender Bestandteil der allgemeinen Gesundheit, und die Förderung eines vielfältigen, integrativen und wissenschaftlich fundierten Ansatzes in der Psychotherapie ist von größter Bedeutung. Wir stehen gerne bereit, mit der WHO und anderen Gesundheitsorganisationen zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass das neue Manual alle evidenzbasierten psychotherapeutischen Modalitäten umfasst und so zur Verbesserung der globalen psychischen Gesundheit beiträgt.