Die Deutsche Vereinigung für Gestalttherapie (DVG) sieht es als ihre Aufgabe, Entwicklungen nicht nur zu beobachten, sondern sich auch fachlich und ethisch zu positionieren. Als Dachverband, dessen humanistisches Fundament auf Beziehung, Dialog und verantwortliches Miteinander gründet, stellen wir uns der Aufgabe, Diversität nicht nur als gesellschaftlichen Wert, sondern als wesentlichen Bestandteil gelingender therapeutischer Praxis zu reflektieren und zu fördern.
Zum Hintergrund dieser Stellungnahme
In den letzten Jahren ist die gesellschaftliche und wirtschaftliche Diskussion über Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion (Diversity, Equity, Inclusion – „DIE“) zunehmend unter Druck geraten (Postel, 2025). Was in vielen Organisationen über Jahre hinweg als Ausdruck ethischer Verantwortung und als Beitrag zu chancengerechter Teilhabe aufgebaut wurde, steht nun vielerorts zur Disposition. Insbesondere in den Vereinigten Staaten formiert sich unter dem Schlagwort „MEI“ (Merit, Excellence, Intelligence) ein Gegennarrativ, das behauptet, Leistung und Exzellenz würden durch Diversitätsstrategien untergraben. Befürworter:innen dieses Kurses fordern, Auswahl- und Beförderungsentscheidungen ausschließlich anhand individueller Verdienste zu treffen – ungeachtet der strukturellen Ungleichheiten, die Menschen betreffen und ihre Chancen reduzieren.
Diese Entwicklung ist nicht nur eine innenpolitische Auseinandersetzung, sondern entfaltet internationale Signalwirkung, auch in Europa und Deutschland. Erste Unternehmen ziehen sich aus ihren DEI-Strategien zurück oder relativieren öffentlich ihr Engagement im Bereich sozialer Nachhaltigkeit (Passenheim, 2025; Schuster, 2025).
Kritiker:innen betonen, dass diese Tendenzen auch im Kontext eines wachsenden politischen und ökonomischen Widerstands gegen ESG-Kriterien (Environmental, Social, Governance) zu verstehen sind, denen Unternehmen bislang u. a. Rechenschaft über Gleichstellung, Diskriminierungsschutz und Diversitätsförderung schuldeten (Müller, 2025). Dabei wird zunehmend deutlich, dass hinter der Ablehnung von DEI nicht nur ein ideologischer Streit steht, sondern auch wirtschaftliche Interessen, Machtdynamiken und konkrete Einwirkungen auf politische und gesellschaftliche Teilhabe (Antomarchi & Arrifi, 2024):
So sind beispielsweise in den USA Gesetzesinitiativen geplant, die die Wahlregistrierung an zusätzliche Nachweise knüpfen, was besonders Frauen und marginalisierte Gruppen treffen könnte (Antomarchi & Arrifi, 2024; Clark, 2025; Francis, 2025). In diesem Sinne ist die Frage nach Diversität keine moralisch-symbolische, sondern eine zutiefst politische, demokratische und soziale.
Gestalttherapie und Inklusion
Vor diesem Hintergrund erscheint es umso wichtiger, die Bedeutung von Vielfalt und Inklusion aus gestalttherapeutischer Perspektive klar zu benennen und wissenschaftlich zu untermauern.
1. Bedeutung von Vielfalt in der Gestalttherapie
Die Gestalttherapie versteht sich als ein ganzheitlicher Ansatz, der die einzigartigen Erfahrungen jedes Individuums respektiert und in den Mittelpunkt stellt (Hartmann-Kottek & Strümpfel, 2012; Jones, 1992; Kaplan & Kaplan, 1978; Manickam, 2010). Vielfalt und Inklusion sind integrale Bestandteile dieser Philosophie (Chambers, 2011). Sie fördern nicht nur die persönliche Entwicklung, sondern auch das gemeinsame Wachstum in Organisationen und Gemeinschaften. Studien zeigen, dass kulturelle Diversitätskompetenzen in der Psychotherapie entscheidend sind, um eine gleichberechtigte Behandlung zu gewährleisten. Diese Fähigkeiten tragen dazu bei, stigmatisierte Gruppen besser zu integrieren und Diversität in Therapieprozessen zu fördern (Moleiro et al., 2017).
2. Wissenschaftliche Grundlage zu Vorteilen von Diversität in Teams
Die Forschung zeigt, dass heterogene Teams häufig kreativer und effektiver sind, insbesondere wenn sie durch bewusst gestaltete Inklusionsmaßnahmen unterstützt werden (Leroy et al., 2021; Li et al., 2015; Mathuki & Zhang, 2022). Eine diversitätsfreundliche Arbeitsumgebung erhöht das Vertrauen, die Mitarbeiterbindung und Arbeitsengagement, da Inklusion ein zentraler Vermittler zwischen Diversitätspraktiken und einem positiven Arbeitsklima ist (Downey et al., 2015). Vielfaltsorientierte Bildungs- und Gesundheitspolitiken fördern zudem die psychologische Anpassung und das Wohlbefinden sowohl in inklusiven Klassenzimmern (Schachner et al., 2016), als auch in Organisationen.
Als Dachverband, der sich auch der Förderung wissenschaftlicher Erkenntnisse verpflichtet fühlt, sehen wir es als wichtig an, dass Vielfalt nicht nur als moralisches Ziel, sondern auch als wissenschaftlich fundierte Strategie betrachtet wird.
3. MEI im Kontext von Gestalttherapie
Während der Fokus auf Verdienst und Exzellenz wichtig ist, darf dies nicht zu einer Einschränkung der Vielfalt führen. Vielmehr sollte ein ausgewogenes Modell entwickelt werden, das die individuellen Verdienste eines Menschen im Kontext seiner spezifischen Lebensrealität berücksichtigt. Eine rein leistungsbasierte Perspektive kann dazu führen, dass strukturelle Ungleichheiten verstärkt werden – mit potenziellen Auswirkungen auch im therapeutischen Kontext.
4. Gestalttherapeutische Prinzipien als Leitfaden
Die Gestalttherapie plädiert für einen Ansatz, der Verbindung, Dialog und die Integration unterschiedlicher Perspektiven fördert. Eine einseitige Fokussierung auf Leistungskennzahlen birgt die Gefahr, diese Prinzipien zu vernachlässigen. Stattdessen könnte eine Kombination von MEI- und DEI-Ansätzen Wege eröffnen, um Exzellenz zu fördern und gleichzeitig einen respektvollen Umgang mit Vielfalt zu gewährleisten.
Schlussfolgerung
Die DVG spricht sich für einen ganzheitlichen Ansatz aus, der die Prinzipien von Vielfalt und Inklusion mit den Anforderungen an Exzellenz und Verdienst verbindet. Wir ermutigen Unternehmen und Institutionen, aus einer systemischen Perspektive zu handeln, die sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Bedürfnisse berücksichtigt.
Quellen:
Antomarchi, F., & Arrifi, L. (2024, November 4). Warum drängen die USA auf eine Abkehr von ESG? DPAM. https://e-fundresearch.com/newscenter/193-dpam/artikel/53040-warum-draengen-die-usa-auf-eine-abkehr-von-esg
Chambers, A. (2011). An Analysis of Gestalt Group Psychotherapy in the Context of Multiculturalism.
Clark, S. (2025, Februar 11). Married women could be stopped from voting under SAVE Act. Newsweek. https://www.newsweek.com/married-women-stopped-voting-save-act-2029325
Downey, S., van der Werff, L., Thomas, K., & Plaut, V. (2015). The role of diversity practices and inclusion in promoting trust and employee engagement. Journal of Applied Social Psychology, 45(1), 35–44. https://doi.org/10.1111/jasp.12273
Francis, M. (2025, April 11). What is the SAVE Act 2025? SAVE Act passes the House. How it impacts women’s voting rights. USA Today. https://www.northjersey.com/story/news/2025/04/11/how-much-does-a-passport-cost-who-voted-for-save-act-2025-prevent-married-women-from-voting-rights/83040430007/
Hartmann-Kottek, L., & Strümpfel, U. (2012). Gestalttherapie: Lehrbuch (3. Aufl.). Springer.
Jones, A. (1992). Gestalt therapy: Theory and practice. Nursing standard (Royal College of Nursing (Great Britain) : 1987), 6(38), 31–40.
Kaplan, M., & Kaplan, N. (1978). Individual and Family Growth: A Gestalt Approach. Family process, 17(2), 195–205. https://doi.org/10.1111/j.1545-5300.1978.00195.x
Leroy, H., Buengeler, C., Veestraeten, M., Shemla, M., & Hoever, I. (2021). Fostering Team Creativity Through Team-Focused Inclusion: The Role of Leader Harvesting the Benefits of Diversity and Cultivating Value-In-Diversity Beliefs. Group & Organization Management, 47(4), 105960112110096. https://doi.org/10.1177/10596011211009683
Li, C.-R., Lin, C.-J., Tien, Y., & Chen, C.-M. (2015). A Multilevel Model of Team Cultural Diversity and Creativity: The Role of Climate for Inclusion. The Journal of Creative Behavior, 51(2). https://doi.org/10.1002/jocb.93
Manickam, L. S. S. (2010). Theoretical underpinnings of gestalt therapy. In Opening up to gestalt therapy in Africa (S. 65–100). Immaculate publications.
Mathuki, E., & Zhang, J. (2022). Cognitive diversity, creativity and team effectiveness: The mediations of inclusion and knowledge sharing. VINE Journal of Information and Knowledge Management Systems, 54. https://doi.org/10.1108/VJIKMS-06-2022-0190
Moleiro, C., Freire, J., Pinto, N., & Roberto, S. (2017). Integrating diversity into therapy processes: The role of individual and cultural diversity competences in promoting equality of care. Counselling and Psychotherapy Research, 18(1). https://doi.org/10.1002/capr.12157
Müller, B. (2025, Februar 25). EU knickt bei Nachhaltigkeitsregeln ein. Telepolis. https://www.telepolis.de/features/EU-knickt-bei-Nachhaltigkeitsregeln-ein-10294823.html
Passenheim, A. (2025, April 14). NRW-Firmen im Knebel von Trumps Anti-Woke-Politik. WDR. https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/nrw-unternehmen-trump-wokeness-diversity-100.html
Postel, C. (2025, Februar 7). „DEI“-Programme im Visier von Justiz, Politik und Wirtschaft: Das Ende von Diversität am Arbeitsplatz in den USA? Legal Tribune Online (LTO). https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/dei-programme-usa-ende-diversitaet-am-arbeitsplatz-diskriminierung-trump-supreme-court
Schachner, M., Noack, P., Van de Vijver, F., & Eckstein, K. (2016). Cultural Diversity Climate and Psychological Adjustment at School—Equality and Inclusion Versus Cultural Pluralism. Child development, 87(4). https://doi.org/10.1111/cdev.12536
Schuster, K. (2025, März 28). Dekret aus dem Weißen Haus: Wie Trump die US-Geschichte neu definieren will. ZDF. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/washington-museum-trump-geschichte-100.html