Im Winter 2015/16 betreute die DVG-Gestalttherapeutin Antje Ritter ein Theaterprojekt mit 13 deutschen und syrischen Jugendlichen in der ostdeutschen Kleinstadt Grabow. Aus den Geschichten der Jugendlichen entstand unter Leitung der Regisseurin Nadine Nourney ein Schwarzlichttheater, das im April 2016 erfolgreiche Premiere feierte.

Hier der Erfahrungsbericht von Antje Ritter:

Ich lebe seit einigen Jahren in Grabow, einer ostdeutschen Kleinstadt ziemlich genau zwischen Hamburg und Berlin. Hier habe ich auch meine Praxis.

Vor ungefähr einem Jahr kamen ca. 20 syrische Flüchtlinge zum Teil jugendlich und unbegleitet sowie eine ebenfalls unbegleitete Syrerin (13) in Grabow an, die zunächst in Gemeinschaftswohnungen à ca. sieben Personen untergebracht wurden. Ich war als freiwillige Helferin dabei, als die Gruppe ankam, nahm sie mit in Empfang, lernte sie und auch die anderen Grabower Helferinnen und Helfer bei einem gemeinsamen Fest im Gemeindehaus näher kennen. Die Sprachbarriere war damals noch ziemlich hoch, was uns nicht davon abhielt, uns gut zu unterhalten und Spaß zu haben.

Kurz darauf sprach mich eine sehr engagierte Ehrenamtliche an, ob ich bereit wäre, ein Theaterprojekt therapeutisch zu begleiten. Ich war Feuer und Flamme, und so ging es zunächst darum, Gelder zu mobilisieren: Die Allianz Versicherung, bei der diese Frau, die inzwischen eine Freundin ist, arbeitet, sagte einen beträchtlichen Betrag zu, wenn wir einen Träger fänden – und so wandten wir uns an die sowieso hier sehr engagierte Kirche, trafen uns regelmäßig zu Besprechungen, stellten Anträge, entwickelten erste Ideen, schauten uns um nach einer Regisseurin – und fanden die wunderbare Nadine Nourney, eine ausgebildete Schauspielerin aus Berlin.

Zu diesem Zeitpunkt fand jeden Mittwoch im Gemeindehaus ein offener Abend statt, ein Treffpunkt für Syrer und Deutsche. So entstand eine Gruppe aus 13 Jugendlichen zwischen 12 und 23, die an dem Theaterprojekt teilnehmen wollten. Wir trafen uns alle zwei bis drei Wochenenden zu Proben, die junge Regisseurin reiste aus Berlin an und wohnte bei uns. Der Termin für die Aufführungen wurde festgelegt: Ende April.

Die Idee war zunächst entstanden, um die Jugendlichen im Winter aus ihren Wohnungen zu holen und ihnen etwas anzubieten, was Spaß macht und Gemeinschaft schafft. Schnell wurde klar, dass daraus noch viel mehr entstand, nämlich eine Möglichkeit, sich auszudrücken, Worte und Bilder für das zu finden, was sie erlebt hatten. Aus den Geschichten der Jugendlichen – deutsche wie syrische – sollte ein Schwarzlichttheater entstehen.

Die Proben wie auch die Premiere fanden auf unserem Grundstück statt, auf dem eine alte Lederfabrik steht, sodass die Aufgaben natürlich weit über das rein Therapeutische hinausgingen. Ich habe eng mit der Regisseurin zusammengearbeitet und war Ansprechpartnerin, Putzfrau, Ofenanzünderin, Organisatorin, Essenszubereiterin,  Zuhörerin, Sich-ganz-viele-Gedanken-Macherin und und und, auch außerhalb des Probensettings.

Zunächst galt es, Vertrauen zu schaffen, Zusammengehörigkeitsgefühl zu entwickeln und eine Atmosphäre zu ermöglichen, in der Gefühle sein dürfen, in der man sich etwas trauen konnte. Es war mehr als berührend, zu sehen, wie schnell eine warme und wertschätzende Stimmung entstand, wie die wilden Jungs mucksmäuschenstill waren, als sie ihre Geschichten vortrugen und zuhörten. Immer wieder suchten mich nach den Proben Teilnehmer in meiner Praxis auf, denn das Aufschreiben ihrer in der Tat bewegenden Geschichten hatte vieles aufgewühlt. Die geflüchteten Jugendlichen berichteten mir, dass sie untereinander nie über die Flucht oder ihre Gefühle sprechen würden. Auch Weinen sei ungewohnt und nicht üblich. Während dieser vier Monate wurde jedoch geweint, vor allem in der sehr dichten Zeit, als die Geschichten zum ersten Mal vorgelesen wurden, aber auch noch einige Male später.

Ich bin mir sicher, dass dieser enge Kontakt zwischen den Jugendlichen, explizit auch zwischen den deutschen Mädchen und den syrischen Jungs, für alle sehr bereichernd und lehrreich war. Es entstanden Freundschaften, Berührungsängste lösten sich auf. Es ging mir sehr nah, mitzuerleben, wie besonders einer der Jungs, der aus guten Gründen große Schwierigkeiten hatte, sich auf Vertrauensübungen einzulassen, derjenige war, der sich am Ende des Theaterstücks von der gesamten Gruppe auf Händen tragen ließ!

Während der gesamten Proben wurden wir von den unterschiedlichsten Menschen aus Grabow mit Selbstgekochten und -gebackenem versorgt, das sie in der Fabrik anlieferten. Das Interesse war groß, es wurde viel gefragt und erzählt.

Die Premiere war ein voller Erfolg! Der Saal bis auf den letzten Platz besetzt. Auch die anderen Aufführungen waren im Nu ausverkauft – es bestand ein reges Interesse an den neuen Grabower_innen.

Hier der Bericht eines Zuschauers, des Flüchtlingspastors Walter Bartels: http://www.kirche-mv.de/1605-06-Theater-kein-Theater.7099.0.html

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dies ein wunderbarer Schritt in Richtung Integration war und auch eine politische Handlung: Nach den Aufführungen gab es Getränke und Knabbereien und es wurde zum Austausch eingeladen, der auch tatsächlich ausgiebig stattfand. Es war alles in allem ein gelungenes und sehr schönes Projekt. Fremdenfeindliche Reaktionen dazu erlebten wir hier nicht.

Aus dem Theaterprojekt sind viele neue Kontakte entstanden, Omran, der irgendwann beiläufig erwähnte, dass er Pferde mag, hat den ganzen Sommer auf einem Reiterhof verbracht und wird demnächst ein Praktikum als Pferdepfleger machen, Karim wurde eine Ausbildungsstelle in Aussicht gestellt, Ammar besucht jetzt das Gymnasium …

Die weitere politische Arbeit besteht für mich z. B. darin, an passender Stelle auch meinen deutschen Klient_innen von dem Projekt zu erzählen und somit zu zeigen, dass es funktioniert, dass man Kontakt zu den (in unserem Fall) syrischen geflüchteten Menschen bekommt und mit ihnen auch tolle Dinge auf die Beine stellen kann.

Es gibt auch schon neue Ideen für weitere Projekte nach der Sommerpause…

Antje Ritter,